Scham
Dies wären meine einführenden Gedanken gewesen:
Schäme dich! Bestimmt haben wir dies alle irgendeinmal gehört, als Kind vielleicht. Wir werden dazu aufgefordert, uns zu schämen. Aber was heisst dies? Was sollen wir in dem Moment tun? Wir fragen uns: haben wir uns unanständig oder flegelhaft aufgeführt, sind wir irgendjemandem auf den Geist gegangen, oder sind ins Fettnäpfchen getreten?
Schäme dich! Als ob wir selbst dies nicht selber wüssten. Schliesslich sind wir rot angelaufen. Fühlen uns ertappt. Vielleicht reagieren wir verärgert, oder wir stammeln eine Entschuldigung, weil wir denken, wir hätten uns irgendwie schuldig gemacht. Wir können uns zwar entschuldigen: aber entschämen können wir uns nicht.
Ihr kennt es: die Schamröte, welche uns ins Gesicht schiesst, wenn wir einen Fehler machen, der entblösst wird, den wir nicht mehr verstecken können. Die Scham stellt sich dort ein, wo wir irgendwie in den Blick anderer Menschen geraten. Wenn wir das Auge der anderen auf uns spüren.
In den Blick anderer Leute geraten. Wir werden für sie wahrnehmbar; werden erkannt, und insofern beginnen wir damit für andere zu existieren. Dies eröffnet erst die Möglichkeit der Scham. Denn nur im Blick der anderen kann ich irgendwie unangemessen, taktlos, überheblich, oder unverschämt erscheinen. Es ist dieses Gesehen werden, real oder vielleicht nur vorgestellt, das uns verletzbar macht.
Scham ist oft internalisiert. Dann könnten wir es als Furcht davor verstehen, dass andere Leute schlecht über uns denken, also eine Furcht vor der Unehre oder Demütigung. Wenn wir uns schämen, dann sind wir in Verlegenheit, oder empfinden so etwas wie Entwürdigung. Wir fühlen uns irgendwie aus der Bahn geworfen. Es scheint dann so, als ob ich meinen Selbstwert verloren habe, zumindest kurzfristig. Scham ist deshalb eine kurze, überfallartige Identitätskrise. Im Blick anderer (und vielleicht auch mir selbst) habe ich nicht nur das Gesicht verloren, sondern auch Ansehen und Wert.
Wir haben ja letztes Mal über die Tugend diskutiert. Aristoteles hat die Scham als Quasi-Tugend aufgelistet. Dies macht durchaus Sinn, da wir nämlich das typische aristotelische Muster der Mitte entdecken: ich kann zu viel oder zu wenig Scham empfinden. Einerseits kann ich mich konstant minderwertig fühlen, kaum beachtenswert, mit minimalem Selbstvertrauen, voller Scham. Andererseits kann ich auch schamlos sein, und so zu wenig Sinn für soziale Grenzen haben, und mich selbst ungeheuer wichtig nehmen und bloss um meinen eigenen Vorteil bemüht (z.B. bei einer Warteschlange vordrängeln). Zwischen diesen Extremen angesiedelt ist die Tugend, eine Art Vertrauen, zur richtigen Zeit, im richtigen Umfang, in der richtigen Situation, ein Anflug von Scham zu spüren: vielleicht eine gewisse Zurückhaltung anderen zu nahe zu treten, vielleicht ein Zweifel, zu weit gegangen zu sein, vielleicht ein Hauch von Bescheidenheit.
Es gibt, glaube ich, eine Konvention, die Scham der anderen zu ignorieren. Ein soziales Gebot, niemals willentlich andere blosszustellen. Oft wird diese Konvention mit Füssen getreten mit der unverschämten aktiven Beschämung.
Dieses shaming—das Induzieren von Scham—geschieht auch in den Medien: zu grosser Bauch, zu kleine Brüste, zu wenig Dankbarkeit? Die betroffenen Personen sollen sich schämen, beispielsweise über ihren Körper. Sie sollen spüren, dass irgendetwas an ihnen nicht richtig ist. Dass sie irgendeinem Massstab nicht genügen.
Dies soll den betroffenen Personen peinlich sein. Uns, den Zuschauern, kann es auch peinlich sein, die Pein oder die Scham mitzuerleben. Aber nun, was genau ist uns peinlich hier? Der Versuch, Scham zu erzwingen, in Verletzung des Diskretionsgebots? Oder der dicke Bauch, für den sich jemand schämt? Oder die Offenbarung dieser Scham selbst?
Wir sagen dann vielleicht: “Nein, du brauchst dich nicht zu schämen”. Und meinen es gut. Aber wenn wir dies zu jemandem sagen, der sich schämt, dann schämt er sich gleich doppelt: über seinen Bauch, und über seine Scham, die er ja nicht haben sollte.
Aber wer entscheidet eigentlich, wofür wir uns schämen sollen? Es kommt doch auch vor, dass wir etwas völlig scham-los oder un-verschämt als normal einschätzen. Bloss anderen kommt dies peinlich oder lächerlich oder ekelhaft vor. Vielleicht aber sind sie bloss scheinheilig. Oder haben selbst etwas zu verbergen, für das sie sich schämen würden, wenn es herauskäme.
Schamlosigkeit ist mehrdeutig. Erstens kann es andeuten, dass jemand gegen die Sittlichkeit verstösst. Es ist schamlos, jemanden blosszustellen. Dieser Verstoss kann absichtlich sein oder gewollt. Nur dann ist er unverschämt. Beschämung kann ja als eine Provokation gedacht sein, wir brauchen hier bloss an die Zyniker in Athen zu denken, oder an Sokrates mit seinen Untersuchungen: viele meinten, sie wüssten Antworten auf seine Fragen, aber dann stellte sich heraus, dass sie es nicht wussten: ihre Ignoranz wurde enthüllt.
Zweitens kann es bedeuten, dass jemand einfach keine Scham empfindet. Denn wer gut ist, ist schamlos. Dann haben wir nämlich nichts, wofür wir uns schämen sollten. Wir sind ein offenes Buch. Wir tun nichts, worauf Scham eine angemessene Reaktion wäre. Wir haben das Schämen hinter uns gelassen.
Nun, die Frage unseres Salons ist ja: Ist Scham gut? Darauf schulde ich euch eine Antwort. Scham ist gut, weil es ein Zeichen ist, dass etwas in mit, oder mit mir, nicht im Lot ist, dass ich da einen Knoten habe. So verstanden, kommt mit der Scham eine bestimmte Sorge um die Meinung der anderen über mich zum Ausdruck. Denn wer sich schämt, dem ist es nicht egal, was andere von ihm halten oder von ihr denken.
So ist die Scham ein Gefühl, welches Respekt für andere und sich selbst, oder auch für Konventionen ausdrückt. Dieser Respekt ist nicht in erster Linie für die Öffentlichkeit bestimmt. Dann wenn wir uns schämen, fürchten wir, uns im Blick derer zu blamieren, die wir respektieren. Falls wir uns dann tatsächlich blamieren, wenn die Maske oder das Feigenblatt fällt, und wir nackt dastehen, dann schämen wir uns. Scham kann somit auch als Ehrfurcht, oder Wertschätzung verstanden werden. Sie bezieht sich auf unseren Platz in der Gesellschaft, und hat damit eine regulative Rolle in sozialen Beziehungen. Eigentlich tun wir alles, damit wir uns nicht zu schämen brauchen. Wir sind also Schamvermeider. Aber wenn wir dann doch eine Schamattacke haben, dann wissen wir: wir sollten unsere Werte überprüfen.
Nun, was denkt ihr? Ist Scham gut, oder nicht?